Neue Zürcher Zeitung
15. Oktober 04 |
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Schwingungen
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Als er Mitte der neunziger Jahre eine zeitlang in New York
lebte, um für ein
neues Buch zu recherchieren, konnte man ihn einmal in der Woche durchs Lower
East Village eilen sehen, auf dem Weg zu einer Probe. Er trug dann seinen
Kontrabass in einen großen Mehrzweckraum, wo nach und nach eine ganze Reihe
weiterer Bassisten sowie Blech- und Holzbläser eintrafen. Auch zwei Stunden
später war manchmal noch nicht klar, ob der Mann, wegen dem man sich
versammelt hatte, überhaupt eintreffen würde. Doch irgendwann tauchte der in diesem Sommer für sein Lebenswerk ausgezeichnete Free-Music-Innovator Cecil Taylor tatsächlich auf, und die Probe begann. Unklar blieb für lange Zeit und viele weitere Proben, ob diese Zusammenkünfte noch ein weiteres Ziel außerhalb jenes Mehrzweckraumes verfolgten. Keinem schien die Frage überhaupt wichtig zu sein. Peter Niklas Wilson sagte später, dass es ihm darum gegangen sei, dabei zu sein: diese Freiheit zu spüren, den Augenblick, den Kick, das Paradies des improvisierenden Musikers. Um den großen Auftritt ging es dabei eigentlich nie. Als er Jahre später "von der sozialen Irrelevanz improvisierter Musik" referierte, brachte er theoretische Forschung und praktische Erfahrung zusammen. 1994 hatte Wilson sich habilitiert und Lehraufträge an der Hamburger Musikhochschule und am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg angenommen. In zahlreichen Radiomagazinen und Features konnte man seine fundierten Ansichten und Diskurs prägenden Statements über zeitgenössischen Jazz, freie Improvisation und Neue Musik hören, in unzähligen Essays konnte man sie lesen, sein Buch Hear and now. Gedanken zur improvisierten Musik erschien 1999. Nicht nur im deutschsprachigen Feuilleton und in der Fachpresse, auch international war Wilson ein renommierter Wissenschaftler, Publizist und Referent. Als Lektor engagierte er sich für wichtige Buchveröffentlichungen, als Autor verfasste er grundlegende Monografien über Ornette Coleman, Sonny Rollins, Albert Ayler, Anthony Braxton und Miles Davis. Wer sich kürzlich beim Darmstädter Jazzforum, der Biennale der Jazzforschung, Sinusschwingungen als Soundbeispiel für die aktuelle Improvised-Music-Szene vorspielen ließ, schien noch gut beraten zu sein. Peter Niklas Wilson referierte da über die neue Gefühllosigkeit in der Musik, ja, es sei ihm beim ersten Hören auch so gegangen, tröstete er jene, die mit den Schwingungen ernste Probleme bekamen und den Saal verließen. Dass Jazzforscher von einer Zeit nach dem Diskurs, über die Wilson sprach, sonst fein die Finger lassen, liegt wohl im Objekt ihrer Begierde begründet. Beim Darmstädter Jazzforum ging es in diesem Jahr um Improvisation, und der letzte Beitrag war für Peter Niklas Wilson reserviert, da bis zuletzt unklar war, ob er kommen könne. Doch er kam. Von schwerer Krankheit gezeichnet, versorgte er die versammelten Experten noch einmal mit frischen Thesen über die aktuellen Entwicklungen in der Neuen Musik. Wilson stellte fest, dass die heutige Improvised-Music-Szene kaum noch Bezugspunkte zum afroamerikanischen Jazz habe. Konnte man früher Linien von Albert Ayler zu Peter Brötzmann problemlos nachzeichnen, treffe man heute auf eine deutliche Distanz zum Jazz. Sowohl die zeitgenössische komponierte Musik wie auch die Ambient-Sounds hätten, so Wilson, einen Paradigmenwechsel in der improvisierten Musik befördert, dessen Folgen noch nicht absehbar seien. Wilson hatte immer auch leisen Spaß an der subtilen Provokation seiner Zuhörer. Er war nicht der laute, aufdringliche Typ eines Redners, sondern immer zurückhaltend, präzise und kompromisslos. Seit einem Jahr kämpfte der Musikwissenschaftler, Publizist und Kontrabassist einen aussichtslosen Kampf gegen die Leukämie. Jüngst erst fuhr er noch nach Donaueschingen, um sich über die aktuellen Entwicklungen in der Neuen Musik zu informieren. Am Sonntag ist Peter Niklas Wilson im Alter von 46 Jahren gestorben. Die Trauerfeier findet am 10. November in der Hamburger Christianskirche statt. |
DIE ZEIT |
Nachruf Feuilleton am 6. November 2003 P. N. Wilson |
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