Der bleibende Wert des Ungewohnten

Zum Tode Derek Baileys, des britischen Gitarristen und Theoretikers

einer non-idiomatischen Musik (29. Januar 1930 - 25. Dezember 2005)
 

VON HANS-JÜRGEN LINKE                                                  Frankfurter Rundschau am 3. Januar 2006


Jazz? Nicht so wichtig. "Für das, was ich mache, ist der Jazz irrelevant", sagte der englische Gitarrist Derek Bailey einmal, und das war natürlich eine Provokation, denn Derek Bailey repräsentierte wie nur wenige andere den Aufbruch des europäischen Jazz in den sechziger Jahren. Er repräsentierte aber auch die enorme Portion Freiheit, die sich der Jazz in Europa erarbeitet hatte in der Loslösung von jeglicher musikalischen Idiomatik, von klassischen Parametern wie Form / Rhythmus / Harmonie / Melodik bei Hinwendung zu den Parametern Klang / Energie. Derek Bailey, der eigenwilligste Gitarrist und charmanteste Eigenbrötler des europäischen Jazz, ist am 25. Dezember in London gestorben, und es ist nicht ausgemacht, dass seine Auffassung von Musik ihren Protagonisten um allzu viele Jahre überleben wird.

Derek Bailey war nicht nur ein großartiger Gitarrist, sondern auch ein großer Denker der Musik. Davon zeugt ein Buch, das schnell den Charakter eines Standardwerkes erlangte. Der eher unprätentiöse englische Titel Improvisation, Its Nature and Practise wurde für die deutsche Ausgabe dem deutschen Denkhorizont angepasst und hieß hier Improvisation. Kunst ohne Werk. Es erschien 1987 und enthält die Essenz dessen, was die (trotz aller lässigen Dementi vom Jazz herkommenden, aber auch von Anton Webern und Alban Berg sowie von indischer und indonesischer Musik beeinflussten) britischen Klangforscher über ihre Musik dachten.

Derek Bailey verteidigte die Improvisation als letzte Chance einer auratischen Kunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von scheinbar allem; er hielt den enormen Wert der ersten Begegnung, der Überraschung, der Neugier und des Unvorhersehbaren hoch und war misstrauisch gegenüber jeder sich einstellenden Routine.

Als Musiker hat er nie aufgehört, Begegnungskunst zu produzieren. Er hat mit fast allen wichtigen (Jazz-) Musikern der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zusammen gespielt, das erste von Musikern betriebene britische Plattenlabel Incus mit begründet und die radikal frei spielende Formation Iskra 1903; er hat das Ensemble "Company", dessen Besetzung sich ständig änderte, und bis 1994 das jährliche Festival "Company Week" am Leben gehalten. Und er hat sich immer wieder neuen Einflüssen und fremden Situationen ausgesetzt und zum Beispiel im zarten Alter von 65 mit dem Drum 'n' Bass-Spezialisten DJ Nini eine CD eingespielt, wenig später sogar mit dem Jazzgitarristen Pat Metheney. "Die Improvisation wird lebendiger", war sein Leitsatz, wenn man sie "in ungewohnte musikalische Situationen einbringt." Als ihm sein Karpaltunnel-Syndrom, eine neurologische Erkrankung im Handgelenk, unmöglich machte, das Plektrum zwischen Daumen und Zeigefinger zu halten, stellte er seine Spieltechnik um und nahm 2005 die CD Carpal Tunnel auf, die seine letzte Einspielung wurde.

Bailey in Wikipedia:   http://en.wikipedia.org/wiki/Derek_Bailey

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