Letzte Grüsse an Peter Niklas Wilson

Neue Zürcher Zeitung

 

15. Oktober 04

 


Das John Tchicai Trio im Moods

 
 

Für eine CD-Produktion hat sich der Hamburger Bassist, Publizist und Dozent Peter Niklas Wilson, der regelmässig auch für die NZZ schrieb, ein Trio erträumt. Mit ihm selbst hätten der 1936 geborene dänische Saxophonist John Tchicai und der in der Schweiz lebende südafrikanische Drummer Makaya Ntshoko musizieren sollen. Ein Krebsleiden Wilsons hat diesem Projekt ein frühzeitiges Ende gesetzt. Wilson ist am 26. Oktober 2003 überraschend im Alter von 46 Jahren verstorben.

Tchicai und Ntshoko wollten Wilsons Idee dennoch realisieren. Aus dem Projekt ist eine Hommage geworden, statt Wilson sorgte der in Deutschland lebende polnische Kontrabassvirtuose Vitold Rek für die tiefen Töne. Im nicht gerade dicht besetzten Moods konnte man sich davon überzeugen, dass Wilsons Kalkül aufgegangen wäre. Es hat auch ohne ihn dem Publikum ein paar wertvolle und nachdenkliche musikalische Stunden beschert.

Geschickt war die Zusammenstellung des Repertoires. Valable Stücke von Wilson selbst, Kompositionen von Tchicai, Rek und dem als unangekündigten Gastsolisten mitwirkenden Berner Gitarristen Giancarlo Nicolai boten den Rahmen für inspirierte und emotional aufgeladene Improvisationen. Die kurzen Themen führten nicht etwa zu langen, freien Exkursen wie im furiosen Free Jazz der sechziger Jahre (mit dem Tchicai meist assoziiert wird), sondern zu swingenden, humorvollen und expressiven Fadenspinnereien, nicht ohne Ecken und Kanten.

Tchicai, der Hauptsolist, befindet sich in Hochform. Seine linearen, eher an Lee Konitz erinnernden Variationen waren geprägt von einer augenzwinkernden Spiritualität. Der Schlagzeuger Makaya Ntshoko sorgte für einen polyrhythmischen Puls, der den Hauptsolisten wie auf einem fliegenden Teppich in die Höhe trug. Vitold Rek fand stets optimale Kontrapunkte und erwies sich auch als glänzender Solist. Gegen Ende des Konzerts spielten die Musiker mit «Bloodcount» eine der letzten Kompositionen des grossen Billy Strayhorn, welche dieser - tödlich an Leukämie erkrankt - im Spitalbett schrieb. Hätte man sich einen schöneren letzten Gruss an den allseits geschätzten Peter Niklas Wilson wünschen können?

Nick Liebmann

Zürich, Moods, 13. Oktober.

 

Das European Tuba Quartet vor der Börse in Frankfurt am Main

 Schwingungen
  Zum Tode des Musikers und Wissenschaftlers
Peter Niklas Wilson
  von Christian Broecking

  Als er Mitte der neunziger Jahre eine zeitlang in New York lebte, um für ein neues Buch zu recherchieren, konnte man ihn einmal in der Woche durchs Lower East Village eilen sehen, auf dem Weg zu einer Probe. Er trug dann seinen Kontrabass in einen großen Mehrzweckraum, wo nach und nach eine ganze Reihe weiterer Bassisten sowie Blech- und Holzbläser eintrafen. Auch zwei Stunden später war manchmal noch nicht klar, ob der Mann, wegen dem man sich versammelt hatte, überhaupt eintreffen würde. Doch irgendwann tauchte der in
diesem Sommer für sein Lebenswerk ausgezeichnete Free-Music-Innovator Cecil Taylor tatsächlich auf, und die Probe begann.
Unklar blieb für lange Zeit und viele weitere Proben, ob diese
Zusammenkünfte noch ein weiteres Ziel außerhalb jenes Mehrzweckraumes verfolgten. Keinem schien die Frage überhaupt wichtig zu sein. Peter Niklas Wilson sagte später, dass es ihm darum gegangen sei, dabei zu sein: diese Freiheit zu spüren, den Augenblick, den Kick, das Paradies des improvisierenden Musikers. Um den großen Auftritt ging es dabei eigentlich nie.
Als er Jahre später "von der sozialen Irrelevanz improvisierter Musik"
referierte, brachte er theoretische Forschung und praktische Erfahrung
zusammen. 1994 hatte Wilson sich habilitiert und Lehraufträge an der
Hamburger Musikhochschule und am Musikwissenschaftlichen Institut der
Universität Hamburg angenommen. In zahlreichen Radiomagazinen und Features konnte man seine fundierten Ansichten und Diskurs prägenden Statements über zeitgenössischen Jazz, freie Improvisation und Neue Musik hören, in unzähligen Essays konnte man sie lesen, sein Buch Hear and now. Gedanken zur improvisierten Musik erschien 1999.
Nicht nur im deutschsprachigen Feuilleton und in der Fachpresse, auch
international war Wilson ein renommierter Wissenschaftler, Publizist und
Referent. Als Lektor engagierte er sich für wichtige Buchveröffentlichungen, als Autor verfasste er grundlegende Monografien über Ornette Coleman, Sonny Rollins, Albert Ayler, Anthony Braxton und Miles Davis. Wer sich kürzlich beim Darmstädter Jazzforum, der Biennale der Jazzforschung, Sinusschwingungen als Soundbeispiel für die aktuelle Improvised-Music-Szene vorspielen ließ, schien noch gut beraten zu sein. Peter Niklas Wilson referierte da über die neue Gefühllosigkeit in der Musik, ja, es sei ihm beim ersten Hören auch so gegangen, tröstete er jene, die mit den Schwingungen ernste Probleme bekamen und den Saal verließen.
Dass Jazzforscher von einer Zeit nach dem Diskurs, über die Wilson sprach, sonst fein die Finger lassen, liegt wohl im Objekt ihrer Begierde begründet. Beim Darmstädter Jazzforum ging es in diesem Jahr um Improvisation, und der letzte Beitrag war für Peter Niklas Wilson reserviert, da bis zuletzt unklar war, ob er kommen könne. Doch er kam. Von schwerer Krankheit gezeichnet, versorgte er die versammelten Experten noch einmal mit frischen Thesen über die aktuellen Entwicklungen in der Neuen Musik.
Wilson stellte fest, dass die heutige Improvised-Music-Szene kaum noch
Bezugspunkte zum afroamerikanischen Jazz habe. Konnte man früher Linien von Albert Ayler zu Peter Brötzmann problemlos nachzeichnen, treffe man heute auf eine deutliche Distanz zum Jazz. Sowohl die zeitgenössische komponierte Musik wie auch die Ambient-Sounds hätten, so Wilson, einen Paradigmenwechsel in der improvisierten Musik befördert, dessen Folgen noch nicht absehbar seien.
Wilson hatte immer auch leisen Spaß an der subtilen Provokation seiner
Zuhörer. Er war nicht der laute, aufdringliche Typ eines Redners, sondern immer zurückhaltend, präzise und kompromisslos. Seit einem Jahr kämpfte der Musikwissenschaftler, Publizist und Kontrabassist einen aussichtslosen Kampf gegen die Leukämie. Jüngst erst fuhr er noch nach Donaueschingen, um sich über die aktuellen Entwicklungen in der Neuen Musik zu informieren. Am Sonntag ist Peter Niklas Wilson im Alter von 46 Jahren gestorben. Die Trauerfeier findet am 10. November in der Hamburger Christianskirche statt.
 

DIE ZEIT

 
N
achruf
                            Feuilleton am 6. November 2003

P. N. Wilson

 

   

                       

Diese Seite ist ein Dokument der Projektgruppe Kultur im Ghetto